Spießig - Roland Reischl Verlag

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Spießig

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Routine ist spießig, meint Nele. Um acht aufstehen, um eins zu Mittag essen und spätestens um zehn die Lampe ausknipsen. 30 Jahre derselbe Job, dieselben Hobbies, dieselben Wege. Und sonntags Spießbraten bei Mama. Geht’s gut? Muss. Und bei dir? Immer dasselbe.

Ich bestelle eine Cola und breche eine Lanze für die Spießigkeit. Nele verdreht die Augen. Du lebst wie ein Stein, meint sie verächtlich. Ohne Stein keine Funken, kontere ich: Woran willst du dich reiben, wenn alles weich und formbar ist, flexibel und durchlässig? Kreativität braucht Grenzposten!
 
Da haut sie mit der Faust auf den Tisch: Grenzposten? Ich glaub, es hackt! Willst du jetzt mit mir über Politik diskutieren? Nele hat den Kopf so hoch in den Wolken, dass sie die Erde nicht mehr sieht. Aber ich bleibe am Ball.
 
Jeder Heißluftballon braucht einen Start- und Landeplatz, erkläre ich, du kannst nicht immer in der Luft bleiben. Wirklich frei ist nur, wer weiß, wo seine Wurzeln sind! Sonst bist du nicht frei, sondern bloß orientierungslos.
 
Nur im Notfall stelle ich meine überaus imposante Allgemeinbildung zur Schau, aber ich finde, solch ein Notfall ist hier gegeben. Also doziere ich über Lichtgestalten der Weltgeschichte, die den Schatten eines spießigen Alltagsdaseins brauchten, um Großes zu leisten – wäre Kafka zum Jahrtausendliteraten gereift, wenn er als Bohemien gelebt, sich von allen Zwängen befreit hätte? Gerade dieser gutbürgerliche Nährboden war es doch, der seinen kreativen Geist beflügelte! Ich stelle fest: Auch Genies gehen jeden Tag zur Arbeit. Genie-Sein ist ein Beruf wie jeder andere.
 
Schlechtgelaunt rührt Nele in ihrem Soja-Drink. Den hier, wenn ich mich mal unauffällig umschaue, alle trinken. Mir scheint, mit meiner spießigen Cola bin ich in Wahrheit die neue Avantgarde.
 
Ich wünschte, ich könnte ein Foto von Nele machen, wie sie da auf ihrem Barhocker sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, der leicht abgewetzte Cord-Rock über die Knie hochgerutscht, die Ärmel ihres Karohemdes aufgekrempelt, einen Ellbogen auf den Tresen gestützt und die Faust kampflustig unters Kinn geklemmt. Ich weiß: Sich als Mann ein Bild von einer attraktiven Frau zu machen, das ist auch irgendwie spießig, fragwürdig, auf jeden Fall gestrig. Zumal Nele es gar nicht drauf anlegt, schön zu sein. Aber, unter uns gesagt, gerade deswegen ist sie schön. A propos: Ist Schönheit spießig?
 
Während ich meine Cola leertrinke, bricht unvermittelt die Revolution aus: ein brachialer Akt purer Anarchie, als Nele sich streckt, ihren Rock zurück über die nackten Knie streift, und einlenkt: Vielleicht hast du recht. Da werde ich grantig. Ich lasse eine Handvoll Münzen auf den Tresen kullern, zahle zur Strafe für sie mit. Nein, meine Liebe, das lasse ich nicht auf mir sitzen! Recht soll ich haben? So spießig bin ich nun auch wieder nicht!

© René Klammer, November 2018.
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