Rösrath-Hoffnungsthal - Roland Reischl Verlag

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Rösrath-Hoffnungsthal

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20. Oktober 2019 – Rösrath–Hoffnungsthal


Wir saßen unterhalb von Menzlingen auf der Bank und küssten uns. Vor allem deshalb, weil wir uns erinnerten. Hatten vor 15 Jahren hier unsere erste Rast gemacht auf einem neuentdeckten Pfad in Rösrath, uns gefreut und uns geküsst. Merkten nun allerdings, das Blut floss doch etwas ruhiger durch die Bahnen, nicht so drängend. Man war eben älter geworden, dafür, sagen wir mal, besonnener – und dankbarer, dass wir wieder in der Natur saßen, mitten im Grün, unter blauem Himmel. Und spürten diesen Reiz, wenn man bekannte Pfade geht und Vergleiche anstellt: Wie war es damals, wie ist es heute? Veränderungen werden sofort aufgenommen. Die Eulenburg zum Beispiel unterhalb des Bahnhofs von Rösrath, wo wir ausgestiegen waren. Sie hatte sichtlich einige Schönheitsoperationen hinter sich, das Gemäuer jetzt richtig hübsch und sauber renoviert. Und auch der Teich um die Burg sah neu aus, und so eine Wasserschildkröte, die bedächtig durchs Schilf schlich, hatten wir früher nicht bemerkt, auch gab es keine dieser saftigen großblättrigen Teichrosen.

An einem modern eingerichteten Restaurant vorbei betraten wir die Ebene, durch die ein kleiner Fluss, die Sülz, sich schlängelte. Wir gingen an dem Pferdehof vorbei, kamen zur Brücke, wollten rechts runter, wie früher, zum Wasser. War nicht mehr möglich. Der Uferpfad zugewachsen. Wir mussten die Asphaltstraße weitergehen, durch eine Siedlung, an Häusern mit exakt angelegten, manchmal mit Zwergen geschmückten Gärten vorbei. Doch dann zeigte sich wieder dieser alte ausgetretene schmale Pfad an der Sülz lang. Wir atmeten auf. Dieser Weg hatte uns immer vor Augen gestanden später, als ein besonders schöner Teil der Wanderung. Man geht eben gern am Wasser entlang. Unwillkürlich streift der Blick immer wieder dahin, man sucht Fische, Frösche, Libellen, versucht, diese dunkle Fläche zu durchdringen – eine geheimnisvolle Angelegenheit, so ein mit leisem Geplätscher vorbeiströmendes Flüsschen.

Schließlich ging’s links den Hang hoch. Man musste etwas heftiger atmen, aber irgendwann würde dann diese Bank kommen. Oder man hatte zwischendurch auch hier Schönheitsoperationen unternommen. Aber sie war noch da! Wenn auch die Latten etwas gebogen waren, etwas rissig, etwas gedunkelt, aber die Bank gut benutzbar. Unsere alte Freundin! Wir setzten uns, machten die Füße lang. Es gab kein weißes Pferd wie damals auf der Wiese gegenüber, aber da waren noch die Bäume, die begrünten Hänge – und eben diese Bank, auf der wir uns geküsst hatten.

Auch jetzt wollte ich mich nach einer gewissen Zeit wieder erheben. „Auf geht’s – weiter!“ Kaum hatte ich das gesagt, erinnerte ich mich plötzlich, dass ich damals mit den gleichen Worten zum Aufbruch geblasen hatte. Und genau wie damals blieb Gilla auch jetzt ungerührt sitzen. Machte keine Anstalten, weiterzugehen. Dabei waren schon zweimal Wanderer energischen Schrittes an uns vorbeigezogen, hatten uns überholt. Doch Gilla ließ sich keineswegs dadurch irritieren. Saß da, ganz in sich ruhend, sodass ich mich wieder zurückfallen ließ, seinerzeit war es nicht anders gewesen. Und auch jetzt merkte ich, dass es mir guttat. Ich sah mich nun näher in der Umgebung um, beobachtete den einen oder anderen vorbeihuschenden Vogel, verfolgte die Bewegungen kleiner weißer Wolken über mir, fühlte den Wind auf der Haut. Irgendwie, erkannte ich, hat Gilla in diesem Punkt den Bogen raus, scheint näher an der Natur, näher bei sich zu sein. Damals und heute. Und ich versuchte, solche positiven Impulse aufzunehmen und wirken zu lassen.

Schließlich ging’s weiter. Wir sahen uns auf der Höhe die Häuser von Menzlingen an: schwarz-weiße, mit großen Fenster und Giebeln und Ecken versehene Gebäude. Edel gemacht, aber gemütlich. Von Leuten, die einiges Geld dafür investierten. So bekommt auch der vorbeiziehende Wanderer etwas vom Reichtum mit. Der wirkliche Reichtum ist bekanntlich die Natur. Und in die traten wir ein, als es nun abwärts ging, durchs Kupfersiefertal. Hohe Buchen und Fichten, aber mit viel Platz für die Sonne. Und tief unten ein Bach. Man sah ihn oft nicht, aber wir hörten ihn immer plätschern. Die Sprache im Wald. Der Bach flüstert, und wir lauschen und verstehen. Verstehen, dass Wasser lebendig ist, und zum Beispiel diese mächtige Schlucht in den Erdboden graben kann. Nicht von heute auf morgen, sondern im Laufe von Millionen Jahren. So heißt es, so liest man. Aber wir können uns das kaum konkret vorstellen. Der Mensch lebt einige hunderttausend Jahre. Aber der Bach existiert mehrere Millionen Jahre. Hat sich ja allmählich in die Erde eingegraben. Man wird ganz bescheiden als Mensch, der nur kurz lebt, und vielleicht auch bald als Rasse, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwindet. So was geht einem durch den Kopf, wenn man durch die Landschaft wandert. Man ist im Grunde schwach und nicht sehr bedeutend. Aber es sollte einen nicht verdrießen. Man sollte schnell die Vergangenheit hinter sich lassen. Tatsächlich zählt ja nur die Gegenwart, das, was wir erleben, was wir spüren. Denken in diesem Moment an nichts anderes als an das Rauschen des Baches, das Rauschen der Blätter, das Flüstern und Jubilieren der Vögel. Das ist Realität.

Daran, dass es in der Natur auch Tod und Zerstörung gibt, erinnerte uns ein kleiner Wald mit abgestorbenen braunen Fichten, auf den wir plötzlich stießen. Der sehr lange heiße Sommer im letzten Jahr hatte sie getötet, vermuteten wir. Und der dicke Stamm einer riesigen Tanne am Weg war auch zerbrochen. Erst wohl vertrocknet, dann vom Sturm gespalten. Muss wie eine Explosion gewesen sein, dieser Bruch. Im weiten Umkreis lagen zerrissene Holzteile. Und aus dem verbliebenen, etwa zwei Meter hohen Stamm ragten scharfe Splitter heraus, zeigten wie Schwerter gen Himmel. Und einige auch nach unten. Als wollte der Baum den vorbeikommenden Wanderer durchbohren. Sich rächen an die Menschen, die Auslöser des Klimawandels mit all solchen negativen Folgen. Und Gilla stellte sich vor diesen kaputten Baum und hob die Arme, bat um Verzeihung. Und ich machte ein Foto.
Sollte man übrigens nicht so oft auf einer Wanderung machen, ein Foto. Nicht immer nach Motiven suchen, wenn man unterwegs ist. Da wird man zu nervös, abgelenkt, so meine Erfahrung, kann nicht mehr alles aufnehmen und genießen, was man um einen passiert.

War lang, dieser Weg durchs Kupfersiefertal. Wir hatten das gar nicht so in Erinnerung. Und auch seltsam, dass wir nun keinen einzigen Menschen mehr trafen. Sonntagnachmittag, schönes Wetter, schönes Gelände, und kein einziger Mensch sonst auf der Piste. Angenehm für uns. Ein paar Wanderer auch kein Problem – nur zu viele Neugierige im Wald, weil der Weg in den Medien als Geheimtipp angepriesen wurde, das will man ja wirklich nicht.
Schließlich traten wir, hinter der Kupfersiefer Mühle, die nun ein Tagungs- und Seminarhaus ist, ins Freie, gingen eine geteerte Straße nach Lüghausen hoch. Gott sei Dank kaum Autos. Steiler Anstieg, aber wir wussten, oben wartete eine Bank auf uns. Damals war da jedenfalls eine. Und – sie war immer noch da! In alter Pracht, mit einem soliden moosbedeckten Tisch davor. Nach kurzer Pause weiter. Durch das Dorf Lüghausen. Man kann von der Höhe weit ins Land gucken. Damals, jetzt war alles zugebaut. Neue, großzügig angelegt Häuser rechts und links. Und nun fuhren, im Gegensatz zu früher, eine Menge Autos an uns vorbei. Wer hier hinzieht, braucht eben ein Auto, um einzukaufen oder zur Arbeit zu kommen oder ins nächste Café. Saubere Luft früher, nun nicht mehr, dazu Lärm. Und Gefahr. Denn wir sahen einige Schilder am Straßenrand: „Bitte langsamer fahren – Kinder!“
Aber bald konnten wir den Asphalt verlassen, ein erdiger Fußweg führte hinab ins Dorf, nach Hoffnungsthal. Das war unser Ziel, konkret: das Café Rosenow in der Nähe der Schule.
Hatten diese Bilder schon eine Weile vor Augen gehabt: die großen saftigen sahnigen fruchtigen Kuchenstücke, den Duft des Kaffees auf der Terrasse. Und das angenehme Gefühl, nach der Wanderung die Füße langzumachen, eine wohltuende Müdigkeit in sich aufsteigen zu fühlen.
Was auch wieder funktionierte. Wenn auch, überraschenderweise, dem schönen Herbstwetter zum Trotz kaum Gäste in dem Lokal waren. Kannten wir früher anders. Man drängelte sich, am Tresen die Laufkundschaft, an den Tischen die üblichen Gäste.
Vielleicht Zufall, überlegten wir, aber, meinte Gilla, möglicherweise haben die reinen Kuchen-Cafés ausgedient. Man will weniger Schwarzwälder Kirsch und Flockensahne und Champagner-Torte, sondern, vor allem die Jüngeren, Gesünderes mit Obst und Früchten, dazu Speise-Angebote wie Quiche und Tapas und Falafel.
  
Trotzdem fühlten wir uns in diesem ruhigen und beschaulichen Lokal wohl, der Kuchen schmeckte, auch der Cappuccino lecker, und es gab wie früher Zeitungen, Illustrierte, in denen wir blättern konnten. Die bunten Ölbilder an den Wänden schafften eine angenehme Atmosphäre.
Zurück auf dem Weg zum Hoffnungsthaler Bahnhof guckten wir bei Mona Lisa rein, dem Italiener an der Hauptstraße, den es damals auch schon gab, aber der sich inzwischen bedeutend vergrößert hatte. Und viele junge Leute sahen wir an den Tischen. Ein Eiscafé, aber auch mit kleinen Speisen auf der Karte. Und auch mit kleinen Preisen. Ein Cappuccino kostete immerhin 60 Cent weniger als bei Rosenow, und die Tasse war sogar etwas größer.
Der Zug kam pünktlich, und sanft schaukelten wir, das Grün der Büsche und Bäume glitt dicht am Wagenfenster vorbei, zurück in die sogenannte Zivilisation. Und wir waren mal wieder erstaunt, wie schnell man aus fast einsamen Gegenden in die quirlige Masse der Großstadt gelangen kann. Und umgekehrt. Man muss sich einfach mal aufraffen.

 
© Bert Brune 2019.
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