Ein langes Leben
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Was wünscht man einem 95-Jährigen zum Geburtstag? Ich weiß es nicht, darum frage ich ihn.
Während er überlegt, versucht er, sich ein Stück Zucker zu angeln. Kaffee darf er noch trinken und süß mag er ihn am liebsten. Er kämpft mit den Würfeln. Seine Fingerspitzen sind taub und seine sehnigen Hände zittern. Ich helfe nicht, denn er hasst es, wenn man ihm hilft. Aber er kriegt diesen verflixten Zuckerwürfel einfach nicht zu packen. Also frage ich schließlich: „Soll ich helfen?“ Da zieht er unwirsch seine buschigen Augenbrauen zusammen. Trinkt seinen Kaffee lieber schwarz. „Es ist nicht schön, so alt zu sein“, sagt er.
Unsere Welt geht ihn nichts mehr an. Er sieht nicht fern, liest keine Zeitung. Am liebsten bleibt er im Bett. Wenn er aufsteht, sitzt er stundenlang vor dem Fenster und betrachtet die Wolken. „Schau mal“, sagt er, wenn er ein besonders schönes Wolkenbild entdeckt. Ich glaube, das sagt er auch, wenn er alleine ist.
Im Vergleich zu anderen Menschen seines Alters hat er Glück. Weil seine Enkel in der Nähe wohnen, kann er in seiner Wohnung bleiben. Sie kümmern sich um seine Einkäufe, sind in fünf Minuten vor Ort, wenn er den Alarmknopf drückt. Morgens kommt der Pflegedienst, montags und donnerstags die Putzhilfe. Für alles ist gesorgt.
Ja, dafür, dass er schon fast ein Jahrhundert auf der Welt ist, geht es ihm gut. Er kann noch sehen und hören und an den meisten Tagen weiß er auch, wer er ist. Er kann alleine aus dem Bett aufstehen. Sofern er einen Grund findet.
Nach dem Aufwachen dauert es eine Weile, bis er sich orientieren kann. Zuerst glaubt er, wieder zu Hause zu sein, in dem kleinen Dorf in Schlesien, das es schon lange nicht mehr gibt, bei seinen Eltern, die schon lange tot sind. Von ihnen gibt es keine Fotos, niemand lebt mehr, der sich an ihre Stimmen erinnert. Außer ihm. Einmal irrte er nachts durch seine Wohnung und suchte seine Mutter. „Ich bin so durcheinander manchmal.“ Er klagt nicht, stellt es nur fest.
Appetit hat er schon lange nicht mehr. Nichts schmeckt. Unter der Woche schummelt er, lässt die Mahlzeiten, die fertig geliefert werden, im Müll verschwinden. Aber am Wochenende sitzen seine Enkel mit am Tisch. Und passen auf. Er hat keine Kraft mehr, sich zu wehren.
Heute wird er 95 und wir gratulieren ihm. „Noch ein langes Leben“, wünscht einer. Da hebt er mühsam seine spitzen Schultern: „Man muss warten, bis man dran ist.“
© René Klammer, August 2017.