BRDisch und DDRisch - Roland Reischl Verlag

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BRDisch und DDRisch

Autoren > Fundgrube > Klaus Hansen
Von Klaus Hansen in der Fundgrube
Wie geht’s?

1989 trafen zwei deutsche Sprachen aufeinander, das BRDisch und das DDRisch.

Eine Erinnerung von Klaus Hansen

 
Die 40 Jahre der deutschen Zweiteilung haben auch die deutsche Sprache geteilt. Der Duden für die BRD, der in Mannheim erschien und der Duden für die DDR, der weiterhin an seinem Ursprungsort Leipzig herauskam, belegen das mit vielen Beispielen. Wörter, die in beiden Verzeichnissen standen, nahmen unterschiedliche Bedeutungen an. Das Wort „agitieren“ bedeutete in Mannheim „aufhetzen“ und in Leipzig „aufklären“. In Leipzig gab es Wörter, „Datsche“, „Subbotnik“ zum Beispiel, die es in Mannheim nicht gab, und umgekehrt: „Gewinnwarnung“, „Schandmauer“. - Hier sprach man BRDisch, dort DDRisch.

Nach der „Wende“ legten nicht wenige DDR-Bürger Vokabelhefte an, um ja nichts falsch zu sagen. Denn auch das alltägliche Gespräch war über Nacht schwieriger geworden. Nun hieß das „Kollektiv“ plötzlich „Team“, die „Zielstellung“ wurde zur „Zielsetzung“, die „Beratung“ zur „Besprechung“, das „Objekt“ zum „Gebäude“ und das „Territorium“ zum „Staatsgebiet“. Die Neubürger aus der DDR übernahmen das neue Vokabular, machten sich aber ihren eigenen Reim darauf. „Team“ wurde schnell zum lächerlichen Akronym: „Toll, ein anderer macht’s! Kein Vergleich zum Zusammenhalt in unseren alten Kollektiven.“ Bald wurden Menschen am Vornamen erkannt. Wer sich „Mike“ nannte und M-I-K-E buchstabierte, war mit Sicherheit ein Westkind, denn im Osten, so die verbreitete Meinung, konnte man kein Englisch und schrieb den Namen gleich lautsprachlich: M-A-I-K. Die westlichen Interpreten erkannten in „Maik“ und „Kessrin“ für „Catherine“, in „Cindy“, „Peggy“ und „Mändy“ die Sehnsucht der DDR-Eltern nach dem freien Westen. Aber niemand im freien Westen kam auf den Gedanken, die in der BRD viel häufiger als in der DDR anzutreffenden „Boris“ und „Natascha“, „Tanja“ und „Sascha“ mit der ungestillten Sehnsucht westdeutscher Väter und Mütter nach der Sowjetunion in Verbindung zu bringen. – In der Zeit dieser sprachlichen Irrungen und Wirrungen spielt die folgende Geschichte.

Herr Arnold kommt aus Treuenbrietzen in Brandenburg, „Geburtsort von Henry Maske“, wie er immer hinzufügt, um nicht umständlich erklären zu müssen, wo genau der Flecken liegt. Als Jahrgang 1950 ist er ein „gelernter DDR-Bürger“. So nennt er sich selbst. Herr Arnold hatte Glück. Er war „übernommen“ worden, während viele seiner Kollegen „abgewickelt“ wurden. Bis in die frühen 1990er-Jahre konnten, laut Duden aus West und Ost, nur Garn und Veranstaltungen „abgewickelt“ werden, jetzt war es möglich geworden, auch Menschen „abzuwickeln“. Der neue Einheitsduden nahm es zur Kenntnis.

Kurz nach der später so genannten „friedlichen Revolution“ reiste Herr Arnold zum ersten Mal in seinem Leben nach Bonn. Sein neuer Beruf im öffentlichen Dienst des neuvereinten Deutschlands führte ihn in die Noch-Hauptstadt am Rhein. Er wusste wohl, dass Bonn nicht groß war, aber so klein hatte er sich das Kaff nicht vorgestellt. Von jedem Punkt aus konnte man die dunklen Wälder der Eifel, des Vorgebirges und der Sieben Berge sehen.

Wie es höfliche Gepflogenheit ist, wurde er von seinem Bonner Amtskollegen Harnischfeger mit der Frage „Wie geht’s?“ begrüßt. „Ich holte tief Luft“, berichtet Sachbearbeiter Arnold, „um wahrheitsgetreu zu antworten, wie es um mich bestellt war. Aber ich kam gar nicht dazu, den Mund aufzumachen, denn Kollege Harnischfeger ging, während ich noch nachdachte, bereits zu einem anderen Thema über. Das war irgendwie komisch.“

In der Folgezeit musste der gewissenhafte Herr Arnold wiederholt diese Erfahrung machen. „Die Frage ‚Wie geht’s?‘ “, so sein hartnäckiger Verdacht, „scheint in Westdeutschland nicht ernst gemeint zu sein.“ Vielleicht hätte er kurzen Prozess machen und einfach mit „Gut!“ antworten sollen. „Aber das konnte ich nicht“, bekennt Herr Arnold, „denn es ging mir ja nicht wirklich gut. Und ich bin nun mal kein Lügner!“ Herr Arnold aus Treuenbrietzen war also hellhörig geworden oder, wie man unter Wessies mit etwas mehr parfümierter heißer Luft sagt: Er war semantisch sensibilisiert. Ein Wortgläubiger aus dem Osten war unter die Windmacher aus dem Westen geraten. Herzliches Beileid!

Bald schon wurde Herr Arnold Ohrenzeuge einer Begrüßung unter waschechten Wessies. „Wie geht’s?“, fragte der eine, und der andere entgegnete zu Arnolds großer Überraschung wie ein echter dialektischer Materialist aus der sozialistischen Volksrepublik: „Den Umständen entsprechend.“ Mit der unangenehmen Folge allerdings, dass sein Gegenüber nun tatsächlich mehr erfahren wollte. Er schien plötzlich regelrecht elektrisiert und auf eine geradezu lüsterne Weise interessiert, vielleicht weil er schlimme Umstände, widerwärtige Schicksalsschläge, todbringende Krankheiten witterte, angesichts derer er sich selbst, verschont von alledem, um so glücklicher fühlen konnte? Mag sein. Wir wissen es nicht. Aber Herr Arnold weiß aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht in der Erweiterten Oberschule, dass Schadenfreude für den spätkapitalistisch deformierten Charakter die schönste Freude ist. Jedenfalls war die in seinen Ohren durchaus vernünftige Antwort „Den Umständen entsprechend“ keine, die für ihn in Frage kam, jedenfalls nicht unter den neuen Umständen.
  
Also hörte er sich weiter um, und was er hören musste, stellte ihn nicht zufrieden.

„Wie geht’s?“ „Muss!“ – Auf keinen Fall!

„Wie geht’s?“ „Viel Arbeit!“ – Das ist doch keine Antwort auf die Frage nach dem Befinden. Der eine freut sich, dass er gut zu tun hat, der andere stöhnt unter der Last seiner Verpflichtungen. Also was denn nun?

„Wie geht’s?“ „Immer dasselbe.“ – Peinlich!

„Wie geht’s?“ „Wie soll’s schon gehen!“ – Oh Gott!
„Wie geht’s?“ „Kann nicht klagen.“ – Wer den Umstand, nicht klagen zu müssen, für erwähnenswert hält, geht davon aus, dass die Welt ein Jammertal ist und eigentlich immer Grund zur Klage besteht. Herr Arnold war aber kein Jammerlappen, sondern ein Realsozialist aus dem tragischen Teil Deutschlands.

Im Frühstücksraum einer Dreisterne-Unterkunft am Fuße der Loreley wurde Neubürger Arnold endlich fündig. „Wie geht’s?“, sagte der eine, und der andere gab ohne eine Sekunde des Zögerns, geschweige denn des Nachdenkens, die Antwort, die Herrn Arnold auf der Stelle überzeugte. Eine Antwort in der Form einer Retourkutsche, die er sofort in seinen aktiven Wortschatz übernahm und seither mit großem Ansehen für seine geniale Schlagfertigkeit praktiziert. Es scheint, zumindest gegenüber Wessies und Besserwessies, die einzig richtige, respekteinflößende und erschöpfende Antwort zu sein: „Und selbst?“

 
Text: © Klaus Hansen 2014. Der Verlag bedankt bei Klaus Hansen für die Bereitstellung dieses Beitrags!
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